Die Berliner Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ hat es geschafft. Die gesammelten 349.000 Unterschriften sollten nach der nun folgenden Prüfung ausreichen, um am 26. September parallel zur Bundestagswahl und zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus einen Volksentscheid durchzuführen. Es geht dabei um nicht weniger als die „Enteignung“ sämtlicher privatwirtschaftlicher Wohnungskonzerne, die mehr als 3.000 Immobilien in der Stadt vermieten. Davon betroffen sind rund 243.000 Wohneinheiten. Doch was von vielen als letzte Möglichkeit gesehen wird, die prekäre Wohnsituation in der Hauptstadt zu verbessern, hat zahlreiche Tücken im Detail und dürfte selbst bei einem Erfolg beim Volksentscheid nicht zu dem großen Wurf führen, den nun viele erwarten. Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Wer Berlin kennt, weiß, dass der dortige Wohnungsmarkt eine einzige Katastrophe ist. Dies ist nicht nur für die Berliner ärgerlich, sondern auch ein Verteilungsproblem mit volkswirtschaftlichen Auswirkungen. Im Median stiegen dort die Immobilienpreise um 12% pro Jahr – in einigen Stadtteilen steigt der Wert pro Jahr sogar um mehr als 20%. Die Mieten hinken dieser Entwicklung nur leicht hinterher und stiegen bei Neuvermietungen in den letzten Jahren um durchschnittlich 5,6%, in speziellen Lagen sogar um mehr als 9%. Der Anteil der Mietkosten am Einkommen beträgt in der Hauptstadt durchschnittlich stolze 46%. Das heißt auch, dass die Berliner Mieterhaushalte die Hälfte ihres Einkommens direkt nach dem Gehaltseingang gleich an den Vermieter durchreichen müssen. Von Mietsteigerung zu Mietsteigerung vermindert sich dadurch das verfügbare Einkommen, da das Gehalt in der Regel langsamer steigt als die Mieten. Dieser mietenbedingt steigende Kaufkraftentzug für die fast 85% der Stadtbevölkerung, die nicht in den eigenen vier Wänden wohnen, ist eine Konjunkturbremse par excellence. Wer sein ganzes Geld für die Miete ausgeben muss, konsumiert weniger, worunter die lokale Wirtschaft leidet.
Diese Zahlen kann man auf folgende Formel herunterbrechen: Je stärker die Immobilienpreise und Mieten steigen, desto mehr Geld wird von den Mietern an die Vermieter umverteilt. Da die Vermieter dieser Rendite- oder besser Spekulationsobjekte statistisch nahezu komplett zum wohlhabendsten Zehntel des Landes gehören, stellt dies eine gigantische Umverteilung von unten nach oben dar. Oder um es zuzuspitzen: Die Reichen werden immer reicher, die Mieter immer ärmer.
Im Falle der großen Wohnungskonzerne ist dieser Kaufkraftentzug sogar global. Der größte deutsche Wohnungskonzern Deutsche Wohnen, der alleine in Berlin mehr als 150.000 Wohneinheiten vermietet, gehört beispielsweise zum Großteil Investmentbanken und Vermögensverwaltungen, die fast ausschließlich in den USA sitzen – größter Einzelaktionär ist BlackRock mit einem Anteil von rund acht Prozent. So fließen die Mieten der Berliner über die Deutsche Wohnen als Dividende in die Wall Street und werden von dort aus an die Kunden dieser Finanzkonzerne auf der ganzen Welt weitergereicht. Es ist richtig, diese Entwicklung zu korrigieren, und das Grundgesetz bietet dafür sogar einen geeigneten Rahmen.
Das Motto der Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ ist zugegebenermaßen schlecht gewählt. Das Grundgesetz sieht Enteignungen vor und davon wurde auch in der Vergangenheit rege Gebrauch gemacht. Wann immer eine neue Autobahn, ein Braunkohlerevier oder eine Stromtrasse entstehen sollte, wurden renitente Eigentümer von Grund und Boden mittels Artikel 14 daran erinnert, dass Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch doch bitteschön auch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen solle – zumindest wenn die Allgemeinheit gerne Auto fährt und Kohle verheizt. Das Grundgesetz sieht jedoch nicht nur die Enteignung nach Artikel 14, sondern auch ganz ausdrücklich die Vergesellschaftung nach Artikel 15 vor. „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden“, heißt es dort in der dem Grundgesetz so eigenen juristendeutschen Mischung aus Pathos und Bürokratie. Davon wurde jedoch in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik noch nie Gebrauch gemacht. Der Berliner Volksentscheid sieht nicht die Enteignung, sondern genau diese Vergesellschaftung nach Artikel 15 vor. Korrekt müsste die Initiative also „Deutsche Wohnen & Co. vergesellschaften“ heißen.
Was heißt das konkret? Ginge es nach der Bürgerinitiative, würde der Berliner Senat ein Gesetz einbringen, das die Wohnungskonzerne zwingt, ihre Wohnungen an eine noch zu gründende öffentliche Wohnungsgesellschaft zu verkaufen. Die 243.000 Wohnungen wären dann im Besitz der Stadt Berlin. Das klingt simpel, bringt jedoch zwei Probleme mit sich.
So sieht das Grundgesetz eine angemessene Entschädigung des Vorbesitzers vor. Was genau hier „angemessen“ ist, ist jedoch juristisches Neuland – wie bereits erwähnt, es gab in der Vergangenheit noch keinen Präzedenzfall. Das Spektrum reicht hier von der Schätzung der Bürgerinitiative, die bei acht Milliarden Euro liegt, bis hin zu den Schätzungen des Berliner Senats, die auf Basis des Marktwerts bei 28,8 bis 36 Milliarden Euro liegen. Sollte der Volksentscheid Erfolg haben und die Politik dem Votum der Bürger folgen, würde diese Frage wohl in letzter Instanz vom Bundesverfassungsgericht entschieden. Und es wäre dabei noch nicht einmal gesagt, dass es bei den 36 Milliarden Euro bliebe. Jeder Bauer, der ein Stück Land, das beispielsweise für den Bau einer Autobahn benötigt wird, über ein Enteignungsverfahren an den Staat abtreten muss, wird bestätigen können, dass die gerichtlich festgesetzten Entschädigungszahlen im Zweifel eher großzügiger als die Marktpreise ausfallen. Woher will die chronisch klamme Stadt Berlin dieses Geld nehmen?
Die Bürgerinitiative sieht vor, dass die Entschädigungssumme über langfristige Kredite mit den Mieteinnahmen getilgt wird. Das mag bei einer Summe von acht Milliarden Euro funktionieren. Bei einer Summe, die rund fünfmal so hoch ist, wird die Stadt Berlin jedoch nicht darum herumkommen, die laufenden Kreditkosten aus dem regulären Haushalt zu tragen. Dieses Geld fehlt dann für andere Dinge. Zudem ist es vollkommen offen, ob die Stadt überhaupt Kredite in dieser Höhe aufnehmen darf – schließlich hat die Politik im Bund und auch in der Stadt Berlin mit der Schuldenbremse derartigen Vorhaben einen mächtigen Riegel vorgeschoben. Auch hier müssten wohl Gerichte entscheiden.
Dies sind aber ohnehin eher Gedankenspiele, die voraussetzen, dass die Politik ein positives Votum der Bürger auch tatsächlich akzeptiert und umsetzt. Dazu ist der Berliner Senat durch den Bürgerentscheid aber keineswegs gezwungen. Gerade der Berliner Senat ist bekannt dafür, das Ergebnis von Volksentscheiden schon mal auszusitzen oder komplett zu ignorieren. So paradox es klingt: Nach der Berliner Verfassung hat ein Volksentscheid eigentlich nur dann eine realistische Chance auf Umsetzung, wenn die Meinung des Volkes sich nicht von der Meinung der Senatoren unterscheidet. Und die SPD hat bereits klipp und klar erklärt, dass sie nichts von den Ideen der Bürgerinitiative hält. Bei CDU und FDP sieht es genauso aus. Nur Linke und Grüne unterstützen die Idee, doch eine dunkelrot-grüne Mehrheit wird es in Berlin nicht geben und damit ist es auch eher unwahrscheinlich, dass ein mögliches positives Ergebnis des Volksentscheids überhaupt konkrete Folgen haben wird.
Dennoch ist die mit dem Volksentscheid verbundene Debatte wichtig. Bei der gesamten Debatte darf man nämlich nicht vergessen, dass die heute kritisierten Wohnungskonzerne nicht vom Himmel gefallen sind. Der Grundstock der Berliner Immobilien der Deutsche Wohnen stammt von der ehemals öffentlichen Immobiliengesellschaft GSW. Deren damals 65.000 Berliner Wohnungen wurden 2004 von der rot-roten Koalition in Berlin für rund zwei Milliarden Euro an private Investoren verkauft und fanden später ihren Weg in das Portfolio der Deutsche Wohnen. Fast alle Wohnungen, die jetzt für eine stattliche Summe zurückgekauft werden sollen, wurden zuvor aus der öffentlichen Hand an private Investoren verkauft.
Kritische Stimmen, wie die NachDenkSeiten, haben seit jeher auf die negativen Folgen der Privatisierung hingewiesen. Die heutige Debatte wäre überhaupt nicht nötig gewesen, wenn man damals auf die kritischen Stimmen gehört hätte. Man kann also letztlich nur hoffen, dass die Öffentlichkeit ihre Lektion aus den Entwicklungen auf dem Berliner Wohnungsmarkt gelernt hat. Die Fehler wurden gemacht und es wird unter den neuen neoliberalen Rahmenbedingungen wie der Schuldenbremse leider nicht möglich sein, sie rückgängig zu machen. Wenn man jedoch wenigstens aus diesen Fehlern lernt und sie in Zukunft vermeidet, wäre jedoch schon viel gewonnen. Und irgendwann könnte man dann ja mal darüber nachdenken, auch die Rahmenbedingungen zu ändern. Dies würde einer Politik, die wirklich die Interessen ihrer Wähler vertritt, die Möglichkeiten schaffen, die sie sich selbst verwehrt hat.
Das Digitale lag ihm nicht. Er schrieb bis zuletzt handschriftliche Briefe und wehrte sich in einem studentischen Projekt 2002 vehement gegen eine Internetpräsenz: „Kein Mensch braucht eine Webseite“. Extinction Rebellion und Fridays for Future kritisierte er zuletzt dafür, dass sie acht Stunden am Tag in den sozialen Medien verbringen würden anstatt die Obrigkeit in die Knie zwingen.
Für den Politologen Peter Grottian waren die reale Begegnung, das Schmieden von Bündnissen und die Aktion wichtig.
Während er dem Internet und sozialen Medien kritisch gegenüberstand, fasste er die Universität umso mehr als Ort der Demokratie, der Emanzipation und der politischen Unruhe auf. Viele seiner Seminare waren darauf angelegt, dass am Ende ein Protest herauskam. Sie waren darauf angelegt, dass die Studierenden außerparlamentarische politische Organisierung von der Pike auf erlernen. Grottian, das war Aktivismus an der Universität. Und immer wieder appellierte er dabei: „Ihr müsst Euch verbünden, sonst ändert sich nichts.“
Schule des Aktivismus
Und so prägte er in den fast drei Jahrzehnten seines Wirkens als Professor am Berliner Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft Generationen von Studierenden. Er gab ihnen das Handwerkszeug für die demokratische Rebellion mit auf den Weg, hatte ein offenes Ohr und war ein beliebter Professor, vor dessen gemütlichem Büro immer zahlreiche Studierende warteten. Manche davon auch, weil sie als Langzeitstudenten bei der berüchtigten „Zwangsberatung“ bei ihm keine Standpauke anhören mussten, sondern bei Kaffee und Keksen politisch diskutieren konnten.
Seine Prüfung bei Grottian zu machen, das hieß, dass man keine Fragestellung bekam, sondern ein leeres Blatt, auf dem man die Fragen selbst stellen sollte. Freiheit der Lehre, Freiheit der Universität, Freiheit des Denkens – ganz praktisch umgesetzt. Heute im verschulten Bologna-System wäre einer wie Grottian undenkbar.
„Wenn jemand erwischt wird, zahle ich“
Grottian, der „bemooste alte Karpfen“, war auch anstrengend, manchmal paternalistisch und dominant in der Durchsetzung seiner Ideen. Auf der anderen Seite aber eben wunderbar befreiend, weil er Dinge ermöglichte, die heute an an Universitäten nicht mehr möglich sind. Und dabei hatte er immer ein Gespür für die Provokation und die mediale Wirkung von Protesten.
Es war ein ermächtigendes Gefühl, einen Professor zu haben, der seine Studierenden anstiftet, zusammen mit ihm eine große demonstrative Schwarzfahrer-Aktion zu starten, um gegen die Streichung des Sozialtickets und die Erhöhung der Preise im Berliner Nahverkehr zu protestieren.
Ein Professor, der auch noch einfach so zusagte: „Wenn jemand erwischt wird, dann zahle ich.“ Am Ende gab es einen Strafbefehl von 3000 Euro gegen ihn, konservative Landespolitiker forderten seinen Rauswurf aus der Uni. Der Universität gelang es allerdings nie, den unbequemen Professor irgendwie zu mäßigen.
Bei einem anderen Bündnis, gestartet in einem Seminar, versuchte Grottian im Jahr 2002 den damals schon zum Ritual verkommenen Berliner 1. Mai neu zu erfinden und zu politisieren: Die Polizei sollte sich aus Kreuzberg komplett zurückziehen, dafür sollte der komplette Bezirk ein politisches Straßenfest werden. Sowohl der Innensenator lehnte das Konzept ab, wie auch die autonome Szene.
Mal wieder war Grottian zwischen allen Stühlen, ihm wurde damals sogar sein kleines Auto abgefackelt. Später entkernte der Berliner Senat Grottians Konzept zu einem unpolitischen Straßenfest mit massiver Polizeipräsenz.
Professor Peter Grottian ehrt bei einem Satire-Protest im Jahr 2019 den Berliner Immobilienbesitzer Padovicz für seine Verdienste und verleiht ihm die Ehrenbürgerwürde. Alle Rechte vorbehalten Christian Mang
„Mehr Zivilen Ungehorsam!“
Grottian prägte mit solchen und zahlreichen anderen Aktionen und Bündnissen über Jahrzehnte die Sozialproteste in Berlin, was ihm Bezeichnungen wie „Bewegungsunternehmer“, „Krawallschachtel“ und „Bewegungsonkel“ einbrachte. Für seine Aktivitäten wurde er über Jahre vom Berliner Verfassungsschutz überwacht.
Grottian war auch ein Vorreiter: Als Professor verzichtete er zusammen mit Wolf-Dieter Narr schon im Jahr 1985 auf ein Drittel seines Professorengehaltes, damit am Berliner Otto-Suhr-Institut eine Stelle für eine Professorin geschaffen wird. Er forderte damit mehr Feminismus an der Universität und stellte gleichzeitig professorale Privilegien infrage. Grottian war nicht der große Theoretiker, sondern der große Praktiker.
Grottian engagierte sich über Jahre im Grundrechtekomitee gegen Überwachung und für den Ausbau von Grund- und Freiheitsrechten. In diesem Zusammenhang war er auch an der Publikation des Grundrechte-Reports beteiligt.
Peter Grottian ist am Donnerstag in Bregenz im Alter von 78 Jahren gestorben.
Berlin (dpo) - Schockierende Bilder gingen um die Welt, als am Samstag hunderte Demonstranten versuchten, den Reichstag zu stürmen und sich ihnen zumindest zeitweise nur drei Polizisten entgegenstellten. Damit sich solche Szenen nicht wiederholen, plant der Berliner Innensenator, in Krisensituationen künftig einen vierten Beamten zum Schutz des Parlaments abzustellen. mehr...
Article note: #wow!
"Die Demo in Berlin am Samstag war somit eine der größten rechtsextremen Demonstrationen der jüngsten Zeit." #fakt!!1!
So rechtsextrem war Berlin
Schon lange eigentlich, aber spätestens seit dem 29.08.2020 in Berlin sollte man aufhören, von der “Querdenken”-Demo als einer Demonstration zu sprechen, auf der “einige” Rechtsextreme mitgelaufen sind, sondern anfangen, es als eine rechtsextreme Demonstration zu betrachten, für welche sich auch andere Personen als Feigenblatt einspannen lassen, die optisch nicht dem gängigen Bild von Neonazis entsprechen, aber ideologisch überraschend viele Gemeinsamkeiten haben. Hass auf Eliten und Andersdenkende, auf die freie Presse, Verschwörungsmythen, auch körperliche Angriffe auf Journalist:innen, Medienvertreter:innen und auch einfach Menschen, die eine Maske tragen, hat man auf dieser durch alle Gruppierungen gefunden. Die Nähe und Vernetzung in die rechtsextreme Szene war nicht nur ideologisch und physisch, sondern reichte auch bis hinein in das Veranstalterteam.
Ergänzend zu dieser Recherche verweisen wir auch auf unsere Recherche darüber, welche unzähligen rechtsextremen Gruppierungen im Vorfeld zur Demonstration aufgerufen haben und für diese Demo in Berlin ihre rechtsextreme Anhängerschaft mobilisiert haben. Hier:
Doch selbstverständlich liefert die Demonstration in Berlin selbst die deutlichsten Beispiele dafür, wie aggressiv und rechtsextrem diese Bewegung ist. Ganz wichtiger Hinweis: Damit soll nicht behauptet werden, dass jede einzelne Person, die beteiligt gewesen ist, eine rechtsextreme Gesinnung hat, auch wenn diese Strohmann-Anschuldigung sicherlich kommen wird, um abzulenken. Im Gegenteil, wer sich nicht mit einer derartig verfassungsfeindlichen, aggressiven und rechtsextremen Einstellung identifiziert, muss sich aber den Vorwurf gefallen lassen, warum er mit diesen Menschen dennoch gemeinsame Sache macht. Jede:r Demonstrationsteilnehmer:in war somit zumindest offen für diese Einstellung und hilft der rechtsextremen Szene aktiv bei der Selbstverharmlosung und Relativierung.
In dieser Recherche haben wir eine lange und unvollständige Liste an rechtsextremen Gruppierungen und Personen gesammelt, die an der Demo in Berlin teilgenommen haben.
pöbeleien, nazis allgemein
Viele Beobachter:innen erzählen von Angriffen auf Journalist:innen und Maskentragende. Friedlich sieht anders aus.
Bei #Berlin2908 mit Maske zu sein, bedeutete übrigens, viel angestarrt & angepöbelt zu werden: „Verräterin“, „Maskenopfer“, „hau ab“. Eine 6-köpfige Gruppe umzingelte mich, schrie: „Vermummungsverbot“. Als ich rausschlüpfte, trat mir einer vors Bein. Bestimmt nur ein Versehen
Schilder, dessen Träger:innen die Politiker:innen, Journalist:innen und Personen der Öffentlichkeit wie Dr. Drosten oder Bill Gates verhaften wollen, waren ebenfalls zu sehen. Hier wird nicht friedlich demonstriert, hier möchte man Andersdenkende einsperren. Die Plakate wurden von einem AfD-Politiker gestellt, später mehr dazu.
Foto: Andreas Bergholz (Volksverpetzer)
Von wegen Freiheit: Die Leute, die da in Berlin „Diktatur“ schreien, meinen damit offensichtlich ihre eigene, die sie errichten wollen. pic.twitter.com/NiJkU0MX2m
Auf der Demonstration waren enorm viele Reichs(kriegs)flaggen zu sehen. Sie fällt nicht unter die verbotenen Symbole, werden allerdings von rechtsextremen Parteien und Organisationen als Identifikationssymbol benutzt, ebenso wie auch schon zu Zeiten der Weimarer Republik (Quelle). Die Anzahl der Reichskriegsflaggen auf Videos und Fotos ist so enorm, man könnte einen ganzen Artikel nur damit voll kriegen.
Foto: Andreas Bergholz (Volksverpetzer)
Auch ein bekannter, rechtsextremer Rapper war mit einer Neonazi-Gefolgschaft vor Ort.
930 Selfies mit rechtsextremen Rappern am unangemeldet Treffpunkt der Rechtsextremen am Reiterstandbild Friedrich des Großen Unter den Linden. Ca. 80 Personen #b2908#b2908infopic.twitter.com/2gYODnBgTH
0935 Auch eine sportliche Gruppe Neonazis hat sich beim Reiterdenkmal eingefunden und ist gemeinsam mit Ares auf dem Weg zum Brandenburger Tor. #b2908pic.twitter.com/cDPCxnalem
Falls sich jemand fragt, wie das heute mit den Abständen gehalten wird. Treffpunkt Chris Ares unter dem Pferdehintern Reiterstatue. 95% Männerüberschuss #b2909#Coronademopic.twitter.com/OVECTJNVhl
Am S-Bahnhof Friedrichstraße steht eine Gruppe aus etwa 20 Neonazis, vor allem aus NRW. Darunter auch der Veranstalter des Nazi-Kampfsportevents "Kampf der Nibelungen", Alexander Deptolla. #b2908
Auch Nazi-Hooligans der Düsseldorfer “Bruderschaft Deutschland”, die Essener “Steeler Jungs”, Hogesa-Gründer Dominik Roeseler, die Dortmunder Neonazis von “Die Rechte”, Bochumer Identitäre, Rapper und Reichsbürger “Master Splitter”, extrem rechte Blogger “Blood and Honour” Kader aus dem Ruhrgebiet sollen vor Ort gewesen sein:
Ein kleiner (unvollständiger) Überblick über die extrem rechten Teilnehmer der Berliner Corona-Querfront Demonstration…
Personen mit T-Shirts mit “Nationalisten Magdeburg”:
Die Präsenz der rechten Szene im Vergleich zum 01.08. hat wie befürchtet nochmal zugenommen. Die verdeckte Frau trägt ein Pullover mit der Aufschrift „Nationalisten Magdeburg“. Es gibt keinerlei Abgrenzungsversuche anderer Teilnehmenden. #b2908pic.twitter.com/rkt8HmKIAK
Auch Vertreter der völkischen “Landbewegung” (mehr dazu) hatten einen eigenen Anhänger:
1734 Teilnehmende auf der Straße des 17. Juni haben ihren Anhänger mit einer Fahne der völkischen "Landvolkbewegung" geschmückt. #b2908pic.twitter.com/9sNscxCIXU
Dieser Neonazi ist an dem Neonazi-Symbol der “Schwarzen Sonne” deutlich zu erkennen. Vorlage für das Symbol ist ein ähnliches Bodenornament, das im Dirtten Reich von der SS im Nordturm der Wewelsburg eingelassen wurde (Quelle).
Auch soll es gewalttätige Angriffe von Rechtsextremen auf Gegendemo gegeben haben:
Eskalation an der Friedrichstr Ecke Behrensstr vor dem Westin Grand. Nach Tagesspiegel-Informationen soll einem Teil einer linken Gegenveranstaltung aus eine Gruppe von 5 Personen heraus ins Gesicht geschlagen worden sein. Die Personen sind der rechten Szene zuzuordnen. #b2908pic.twitter.com/HVA1fAX93F
Nicht nur möchten die Demonstrierenden Andersdenkende verhaften…
Hier ein paar politische Plakate – inklusive der Forderung, einzelne PolitikerInnen/Wissenschaftler „hinter Gitter“ zu stecken #b2908pic.twitter.com/W742MpoG6S
… sie hassen auch Frauen und bekommen dafür Jubel:
Redner vor dem Bundestag zeigt auf eine Polizistin hinter Absperrung: „Wenn wir an der Macht sind, werden Frauen nicht mehr Polizisten sein, denn sie sind dafür da, Leben zu geben und nicht zu nehmen. Das ist ihre göttliche Bestimmung!“ Jubel und Applaus. #Berlin2908#b2808
Die Polizei dokumentierte viele Stein- und Flaschenwürfe und es kam zu vielen Festnahmen:
Gegenüber der Einmündung Unter den Linden / Schadowstraße kam es aus einer großen Personengruppe zu Stein- & Flaschenwürfen auf unsere Kolleg. Wir haben 2 Personen festgenommen. Es wurde Zwang in Form einfacher körperlicher Gewalt und Pfefferspray eingesetzt.#b2908
Besonders Journalist:innen waren auf dieser Demonstration nicht sicher, wie viele bestätigen konnten. Die Demonstration und viele Slogans wie das rechtsextreme “Lügenpresse” richtete sich auch gezielt gegen die freie Presse.
Sichere Berichterstattung auf dem Pariser Platz ist zu diesem Zeitpunkt kaum noch möglich. #b2908
Vor Ort auch: Rüdiger Hoffmann, Reichsbürger, früher bei der NPD, saß in den 1990er Jahren wegen versuchten Mordes mehrere Jahre im Gefängnis (er hatte einen rechtsradikalen Angriff auf ein Asylbewerberheim mitorganisiert), Gründer und Anführer der Gruppierung „Staatenlos“, die seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Er rief zu einem “Sturm auf den Reichstag” auf:
Guten Morgen liebe Timeline, ihr könnt mir sicher sagen wer dafür bereits seien Job verloren hat? pic.twitter.com/5eBsMU5zhA
Vor dem Reichstag ruft Reichsbürger und Ex-NPD-Kader R. Hoffmann aktiv zum Umsturz auf. Vom „Sturm auf den Reichstag“ ist die Rede. Dafür würde man auch mit dem Leben bezahlen, so der, wegen versuchten Mordes verurteile, Hoffmann. #b2908pic.twitter.com/mnc59BS4PL
Auch hier gab es weitere Aufrufe, die demokratisch gewählte Regierung mit Gewalt zu stürzen:
Vor dem Reichstag haben Demonstranten die Absperrungen niedergerissen. Die Polizei richtet sie gerade wieder auf. Unterdessen spricht Attila #Hildmann auf der Bühne und ruft dazu auf „die Gitter wieder niederzureißen“. #b2908pic.twitter.com/WKatHdDokb
Später wurden von den Reichsbürgern und Rechtsextremen die Barrikaden durchbrochen:
Vor dem Bundestag überrennen nun Corona-Demonstranten die polizeilichen Absperrungen und stürmen die Treppen hoch. Polizei machtlos. #b2908#2908infopic.twitter.com/7q8wC79h8K
Auf diesem Video verteidigen drei Polizisten die letzen Stufen auf dem Reichstag, einer ohne Helm, und ich weiß nicht, welchen ich mehr bewundere. Was für Vollidioten davor. #Berlin2908#b2908pic.twitter.com/8ZlAHsTmT9
Dokumentiert wurde beim Sturm auch die Anwesenheit eines Mitglieds der ebenfalls vom Verfassungsschutz überwachten, AfD-Jugendorganisation “Jungen Alternative”:
Auch Shoahleugner und NPD-Mitglieder wurden bei dem “Sturm” identifiziert.
Afd
Bei einer rechtsextremen Demonstration durfte natürlich auch nicht die AfD fehlen, die bereits im Vorfeld massiv dafür mobilisiert hat, allen voran der Chef des rechtsextremen “Flügels” Höcke. Wie bereits erwähnt, stammen die Plakate, die Andersdenkende die Verhaftung wünschen, von einem AfD-Bundestagsabgeordneten:
Die Schilder mit Merkel, Drosten, Hayali etc. wurden von einem #AfD-Kreisverband aus Thüringen getragen (darunter MdB Robby Schlund). Höcke hatte aufgerufen, ohne Parteilogo zukommen. Sie nutzten das, um ungehemmt radikal aufzutreten & gezielt diese Bilder zu produzieren. #be2908pic.twitter.com/c51pzgPoNR
Auch bei einem Angriff von Rechtsextremisten auf die Polizei ist der Bundestagsabgeordnete Hansjörg Müller in der Menge neben Neonazis zu sehen.
Ein Bundestagsabgeordneter der #AfD – HansJörg Müller, ist direkt in einer Situation in dem Polizisten angegriffen wurden, direkt neben Neonazis stehend zu sehen. Im weiteren Verlauf kommt es zu Ausschreitungen.#b2908#b2908Info Presse Anfrangen Video @democ_de@janboehmpic.twitter.com/1dcUe6Vdy3
— Gegen_die_Alternative_für_Deutschland (@Gegen_die_AfD) August 30, 2020
Im Umfeld des rechtsextremen Rappers wurden Vertreter eines rechtsextremen und vom Verfassungsschutz beobachteten Magazins gesehen, das dem rechtsextremen AfD-Flügel nahe steht. Trotz der Aufforderung durch die AfD, wenig AfD-Symbolik zu verwenden, um die Bewegung anonym zu unterwandern, waren auch viele AfD-Plakate zu sehen:
AfD und Techno. So stellt sich die Situation auf dem Vorplatz des Brandenburger Tors dar. Mehrere tausend Menschen sind bereits hier, der Zustrom nimmt nicht ab. #b2908pic.twitter.com/JK7KP3oKJj
Auch hier Reichsbürger-Shirts mit “Bundesstaat Preußen”, Reichskriegsflagge – und AfD-Plakat. Die AfD scheint dort fester Bestandteil der rechtsextremen Szene zu sein.
Auch der AfD-Bundestagssabgeordnete Enrico Komning war auf der Demonstration, wo er unter anderem mit AfD-Plakaten mit der Aufschrift “Keine Hygiene-DDR” fotografiert wurde. Komning soll hauptamtlich für das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) der DDR tätig gewesen sein (Quelle).
+++ Demo für Freiheit, Demokratie und Aufhebung der Corona-Beschränkungen +++Gerade aus Berlin zurück zu Hause….
Sie bewarb die Veranstaltung – in Tandem mit dem AfD-nahen, rechtsextremen Magazin und mit dem Gesicht des Demo-Veranstalters parallel in Social Media:
Auch Vertreter einer NPD Zeitung waren vor Ort:
Auch die #NPD-Zeitung „Deutsche Stimme“ ist vertreten. Die extrem rechte Szene erhofft sich hier ihr neues Chemnitz. #b2908pic.twitter.com/54FeOKrwDh
Die Anwesenheit führender Köpfe der vom Verfassungsschutz beobachteten, rechtsextremen Bewegung in Berlin (Hier mit dem Gründer des zuvor erwähnten, AfD-nahen, rechtsextremen Magazins) in Berlin ist ebenfalls dokumentiert worden:
Sehr viele “Reichsbürger”, die die Existenz der Bundesrepublik anzweifeln (und mit Absicht nicht wissen wollen, dass es seit 30 Jahren einen offiziellen Friedensvertrag gibt und die amerikanischen und russischen Botschafter aufforderten, einen mit Deutschland zu unterschreiben), waren auf der Demonstration:
Ihr fragt euch, wer der Versammlungsleiter dieser Demo vorm Reichstag ist? Der Reichsbürger Rüdiger Hoffmann. Hier seine ruhigen Worte… pic.twitter.com/ydBzVfHRQo
Auch Attila Hildmann, der ideologisch dazu gehört, verbreitete den rechtsextremen Mythos des besetzen Deutschlands:
Jetzt ist auch Attila Hildmann vor der Botschaft angekommen. Er redet mal wieder von der angeblichen Besetzung Deutschlands und dem geforderten Friedensvertrag. #b2908pic.twitter.com/gnmOiDa7XE
Wie man sieht, ist die Liste rechtsextremer Gruppierungen und Personen lange und wäre noch länger auszuarbeiten. Eine ausführlichere Recherche wird folgen. Doch auch das Veranstalter-Team macht sich nicht nur schuldig, diese ganzen Gruppierungen zu tolerieren (und sich nur einmal vage von “Extremismus” zu distanzieren), sie scheinen auch mit dieser Szene vernetzt zu sein. Zum Veranstalter-Team zählt z. B. Stephan Bergmann, der sich esoterisch zu inszenieren versucht. Laut Tagesspiegel leitet er via Facebook rassistisches Gedankengut weiter oder empfiehlt entsprechende Beiträge. Er wurde im Gespräch mit einer weiteren rechtsextremen Gruppierung gesehen:
Hinter der Bühne: Querdenken-Presseprecher Stephan Bergmann im Interview u.a. mit Simon Kaupert von der rechtsextremen Initiative "Ein Prozent". #b2808pic.twitter.com/EAxjPIBjfP
Die Verfassungsfeindlichkeit der Veranstalter selbst kann man auch sehr deutlich daran sehen, dass sie ihre Demonstration als “verfassungsgebene Versammlung” betrachten, was nur heißen kann, dass sie entweder das Grundgesetz nicht anerkennen oder ersetzen wollen:
1553 Michael Ballweg bezeichnet die Kundgebung der #Querdenker*innen als eine verfassungsgebene Versammlung. Er möchte die Regierung abschaffen und eine neue Verfassung schaffen. #b2908#b2908info
Nein, nicht alle auf dieser Demonstration waren gewalttätig oder rechtsextrem. Vor Ort war aber so ziemlich die gesamte rechtsextreme Szene, mit der gemeinsam demonstriert wurde. Insbesondere die gewalttätigen Angriffe, der Hass auf alle Andersdenkenden und die Angriffe auf Journalist:innen und Polizist:innen spiegeln deutlich wieder, wie extremistisch große Teile der Demonstration wirklich waren. Die Menschen, die willentlich und wissentlich mit Neonazis marschierten, mit Menschen, die die Bundesrepublik abschaffen wollen, mögen selbst keine Nazis sein.
So Leute: seit Monaten habe ich vor diesen Demos gewarnt und bin von allen Kollegen beschwichtigt worden. Nicht ernst nehmen, nicht auf den Spinn der Nazis reinfallen.
Heute sehe ich mich bestätigt. Diese Bewegung ist brandgefährlich. Warum, lest ihr morgen auf meinem Blog. pic.twitter.com/XbfM0c3SX4
Für die extreme Rechte könnte diese Demonstration ein Erhebungsmomentum bisher kaum gekannten Ausmaßes darstellen. Es gibt wenig gefährlicheres als von den Massen berauschte Faschisten im Siegestaumel. #Antifa wichtiger denn je #Berlin2908#B2908
Wenn sie aber Nazi-Mitläufer sind, wenn sie Verfassungsfeinde unterstützen und mit ihnen gemeinsame Sache machen, spielt diese Unterscheidung keine Rolle mehr. Sie bieten diesen Gruppierungen eine Bühne, Anschlussmöglichkeiten. Und sie verhelfen ihnen, ihr Image zu verbessern. Sie bieten sich selbst an, um als Feigenblatt für Rechtsextremisten zu fungieren. Und anstatt sich zu distanzieren, anstatt verfassungsfeindliche und überwachte Gruppierungen für unerwünscht zu erklären und sie der Demo in Berlin zu verweisen, werden sie bewusst ignoriert und heruntergespielt.
Die Demo in Berlin am Samstag war somit eine der größten rechtsextremen Demonstrationen der jüngsten Zeit. Dass sie bereits versuchten, mit Gewalt den Reichstag zu stürmen, dass sie offen verkünden, dass sie Andersdenkende verhaften und teilweise hinrichten wollen, dass sie die Verfassung abschaffen und die demokratisch gewählte Regierung stürzen wollen, verkünden sie ganz offen. Wer mit diesen Menschen mitmarschiert, macht sich zum Mittäter und Steigbügelhalter. Und dafür gibt es keine Ausreden.
Artikelbild: Christoph Soeder/dpa/Christoph Soeder
Hey, möchtest du mehr Recherchen und Analysen zu den Hintergründen von politischen Mythen und Fake News? Oder auch Kommentare zu politischen Forderungen und aktuellen Ereignissen? Dann unterstütze unsere Arbeit mit einer kleinen Spende für einen Kaffee, dazu kannst du einfach hier entlangschauen. Komm in unseren Telegram Kanal und verpasst keine News mehr von uns (Link). Oder besuche unseren Shop und unterstütze uns mit dem Kauf von T-Shirts, Tassen und Taschen, hier entlang.
Article note: :-O #urgs .oO(Kann man diese/eigene persönliche Daten vllt iwie mit ner Anfrage erfragen ...?)
Mitarbeitende der Berliner Polizei können in mehr als 130 Datenbanken des Landes und des Bundes recherchieren. Zusätzlich vergeben und fragen sie 49 verschiedene personengebundene Hinweise ab, mit denen die Beamten erfahren können, ob jemand zum Beispiel gewalttätig oder Drogenkonsument:in sein könnte. Diese Zahlen gehen aus der Antwort auf eine schriftliche Anfrage (PDF) des grünen Abgeordneten und Innenpolitikers Benedikt Lux in Berlin hervor.
Die Liste der Datenbanken, die wir veröffentlichen, gibt erst einmal einen weiten Überblick über die polizeilichen Aufgabenfelder und Ermittlungsgebiete. Es gibt Datenbanken für Chemikalien, für Schuh- und Reifenspuren oder gestohlene Kunstgegenstände. Dazu kommen biometrische Datenbanken für Fingerabdrücke wie EURODAC aber auch Datenbanken wie das Melderegister oder die Abfrage von KfZ-Kennzeichen.
Und es gibt die Spezialdatenbanken wie „Trickbetrug durch falsche Polizeibeamte“, „Wohnungseinbruch durch chilenische Banden“, „Graffiti“ oder die Datenbank „Nachtleben“, wie die Polizei ihre ehemalige Rotlicht-Datei nennt. Einige Datenbanken, wie MEKONG (Zigarettenschmuggel) oder die ESOK (Organisierte Kriminalität ehemalige Sowjetunion) haben einen ethnischen Bezug. Knapp hundert dieser Datenbanken gibt es alleine in Berlin, hinzu kommen noch einmal knapp 40, die Bund und Länder der Polizei Berlin zur Verfügung stellen.
Der linke Abgeordnete und Innenpolitiker Niklas Schrader sieht das Ausmaß kritisch: „Es wäre an der Zeit, im polizeilichen Datenbestand gründlich auszumisten.“ So sollten nicht erforderliche Datenbanken gelöscht werden.
Mangelnde Kontrolle der Zugriffsbeschränkungen
Eine Presseanfrage bei der Berliner Polizei, ob alle Polizist:innen auf alle Datenbanken zugreifen dürften und ob es eine Beschränkung mit Rechten und Rollen gäbe, beantwortete diese – auch auf Rückfrage – nicht.
Schrader sieht das Problem nicht bei den Zugriffen selbst, sondern bei der „praktischen Umsetzung und Kontrolle der Zugriffsbeschränkungen“. Mangelnde Schutzvorkehrungen, die verhindern, dass man sich etwa über einen fremde Nutzerkennung Zugang zu POLIKS zu verschaffen, wurden auch schon einmal von der Landesdatenschutzbeauftragten angemahnt, so Schrader.
„Auch innerhalb der jeweiligen Zugriffsrechte ist natürlich Missbrauch möglich. So gab es immer wieder Fälle, bei denen Beamte für private Zwecke auf Datenbanken zugegriffen haben. Hier gibt es offenbar wenig Kontrolle und eine dementsprechend geringe Gefahr, dabei erwischt zu werden. Gut wären beispielsweise stichprobenartige Kontrollen der Zugriffe im gesamten Polizeiapparat“, so Schrader weiter.
Problematische personengebundene Hinweise
Besonders problematisch im Datenbestand sind die „personengebundenen Hinweise“ (PHW und EHW). Diese Datenbankeinträge dienen offiziell dem Schutz der einschreitenden Polizeikräfte im Arbeitsalltag und sollen zum Beispiel vor gewalttätigen Personen warnen. Sie erscheinen im Zuge jeder personenbezogenen Datenabfrage im bundesländerübergreifenden Informationssystem der Polizeien (INPOL) oder in den entsprechenden Datenbanken der Länderpolizeien als „Warnhinweis“ für die Einsatzkräfte.
Die Berliner Polizei hat in den letzten zehn Jahren knapp 100.000 personengebundene Hinweise vergeben. Diese kann jede:r Polizist:in abfragen.CC-BY-SA 4.0netzpolitik.org
Jede Polizistin und jeder Polizist darf diese gespeicherten Daten einsehen. In Berlin gibt es 49 unterschiedliche PHW und EHW, sie reichen von „Ansteckungsgefahr“ über „Gewalttäter Sport“ bis zum „Reichsbürger“. Mit mehr als 30.000 Einträgen in den letzten zehn Jahren führt der PHW „Btm-Konsument“ (also Drogenkonsument) die Liste an, fast 10.000 Mal wurde jemand als Politisch-Motivierter Straftäter in den vier politischen Kategorien erfasst.
Insgesamt hat die Berliner Polizei fast 100.000 Mal in den vergangenen zehn Jahren ein PHW in eine Datenbank eingetragen. Wie viele Menschen davon betroffen sind, lässt sich sich nicht sagen, weil auch Mehrfachnennungen möglich sind.
Stigmatisierende Datenbanken
Die Betroffenen werden über die Speicherung eines personengebundenen Hinweises nicht informiert. Dabei führt die polizeiliche Nutzung der Einträge oft zu Zwangsmaßnahmen. Gibt es beispielsweise einen Eintrag zu Betäubungsmitteln kann sich eine normale Verkehrskontrolle für den Betroffenen schnell zum Spießrutenlaufen mit Durchsuchung und Drogentest entwickeln, ähnlich verhält es sich mit anderen Merkmalen, die das Handeln der Polizei gegenüber Personen verändern können. Dabei muss der Betroffene niemals verurteilt worden sein – ein Ermittlungsverfahren reicht – und dazu braucht es nur einen bloßen Tatverdacht, wie Christian Schröder im Grundrechte-Report 2015 kritisiert.
Das sieht auch Benedikt Lux so: „Bei fast allen personengebundenen Hinweisen (PHW/EHW) ist der Rechtsschutz für die Betroffenen höchst problematisch. Sie müssen aktiv gegen die Speicherung vorgehen, ohne zu wissen, dass Informationen über sie gespeichert sind.“
Lux kritisiert vor allem die Hinweise „Betäubungsmittelkonsument“, „Psychische Verhaltensstörung“ und „Ansteckungsgefahr“, weil diese Eigenschaften in einer kurzen Lebensphase auftauchen könnten, aber sehr lange bei der Polizei gespeichert würden. „Eine Lösung wäre, die Betroffenen bestimmter PHW grundsätzlich zu informieren, die Überprüfungsfristen zu verkürzen und sich vor allem auf Gewalt und echte Gefahren für Körper und Gesundheit der Polizisten im Einsatz zu konzentrieren.“
Im Berliner Koalitionsvertrag ist eine Streichung dieser drei PHW vorgesehen, der Innensenator (SPD) verweigert diese aber, sagt Niklas Schrader. Er fordert, dass stigmatisierende und überflüssige PHWs gelöscht werden. So sei zum Beispiel die PHW-Datenbank „Btm-Konsument“ eine „Art Kifferdatenbank“, die für die Eigensicherung der Polizei völlig nutzlos sei.
Rassistische Zuordnung möglich
Die personengebundenen Hinweise haben lange Zeit auch der rassistische und antiziganistische Erfassung von Sinti und Roma gedient. Aus der ehemaligen „Landfahrerkartei“ wurde später „wechselt häufig Aufenthaltsort“. Auch heute noch gibt es in Berlin mutmaßlich ethnische Merkmale wie „Reisender Täter“ oder die Zugehörigkeit zu einem „Clan“.
Schrader geht davon aus, dass „Reisender Täter“ weiterhin zu einer rassistisch geprägten Erfassung führen könnte. Bei der Zuordnung des PHW „Clan“ kritisiert der Innenpolitiker: „Die Definition, die dem zugrunde liegt, ist außerordentlich schwammig und subjektiv. Daher lädt die Speicherung dieses EHW geradezu zu vorurteilsbehafteter bis hin zu rassistischer Zuordnung ein.“ Schrader hat zu diesem Thema eine eigene Anfrage (PDF) gestellt.
Weil Menschen nicht über die Erfassung in den personengebundenen Hinweisen informiert werden, können sie erst durch ein Auskunftsersuchen von einem Eintrag erfahren. Auch diese Auskunftsersuchen hat Bene Lux abgefragt. Die Antwort: Eine statistische Erfassung über diese Anträge und vorgenommene Löschungen erhebt die Polizei nicht. Auch wird nicht erhoben, wie oft die Berliner Polizei Personenabfragen getätigt hat, bei denen es ein PHW gab.
Genutzte Datenbanken der Polizei Berlin
Das Original in der Anfrage enthält Fehler oder Auslassungen. So fehlen im Original in der fortlaufenden Nummerierung die Zahlen 29, 61, 62 und 63. Zwischen den Nummern 60 und 77 gibt es Dopplungen. Diese sind hier kursiv markiert.
Retentverwaltungs- und Recherchedatei, Handschriften- und Urkundenuntersuchungen
Personendatei zu Branddelikten
Zentrale Haftbefehlssammlung und Indexdatei
Vorgangsdatei für nationale und internationale Zusammenarbeit
Arbeitsdatei Verkehrsunfälle mit Betrugsabsicht – VUBA
Zentrale Werkzeugspurensammlung
Zentrale Schuh- und Reifenspurensammlung
Verwahrgelddatenbank
Auswertungsdatei Spektren
Auswertungsdatei Chromatogramme
Spektren-Bibliothek
Arbeitsdatei ‚Observationsaufträge‘
Tagebuchdatei des LKA 25
Vorgangsdatei Polizei
Personen- und Vorgangsdatei Türsteher
Zentrale Kfz-Umsetzdatei (ABAKUS)
Szenekunde Sport -SkS-
Elektronische Haftkladde der Dir 5 VB
Objektschutzdatenbank
Berliner Personenauskunftsstellen-Informationssystem (BEPAS)
Delikte am Menschen (DAM)
BIDAVIS (Bilddatenverarbeitungs- und Informationssystem)
Stadtweite Veranstaltungsdatenbank (VDB)
POLIKS – Vorgangsbearbeitungssystem
POLIKS – Informationssystem
POLIKS – Kriminalpolizeiliche Personenakte
Internetwache
BOWI 21
[Im Original fehlt diese Zahl in der fortlaufenden Nummerierung]